Die Himmelfahrt vor der Moderne

Andris Nelsons und die Wiener Philharmoniker mit Mahlers Neunter.

Wenn es in der Festspielintendanz von Markus Hinterhäuser ein musikalisches Gegenstück zum alljährlichen „Jedermann“ gibt, dann ist es Gustav Mahlers Symphonie Nr. 9. Zum fünften Mal seit 2017 ist dieses Werk an der Schnittstelle zur Moderne erklungen, in den Sommer des Schönberg-Jahrs passt es besonders gut: 1909 komponierte Mahler sein Abschiedswerk, gleichzeitig arbeitete sein Wiener Zeitgenosse an ersten atonalen Stücken. In Salzburg ist all das binnen weniger Tage zu hören: pures Festspielglück. Im Mahler-Originalklang der Wiener Philharmoniker drängt sich das Expressionistische der Neunten nicht in den Vordergrund. Andris Nelsons, der Jahr für Jahr an seinem Salzburger Mahler-Zyklus arbeitet, ist zwar ein Spezialist für Schostakowitsch, die Verbindungslinien zwischen den beiden Symphonikern erschließen sich hier kaum. Die Qualitäten des Orchesters berühren eine andere westliche Seite Mahlers, nämlich das Schwelgen in großem Klang. Fast eine halbe Stunde dauert im Großen Festspielhaus der Kopfsatz, genug Zeit, um die Schönheiten dieser Musik unter die Lupe zu nehmen. Pastos legst sich der warme, seelenvolle Streicherklang über die hauchdünne Struktur des zarten Nachtstücks, nur unterbrochen von den brillant dröhnenden Blech-Interventionen in den Seitengedanken des Riesensatzes. Wie Andris Nelsons das gemächlich ausbreitet, sich nicht in Kleinteiligkeit verliert, sondern einen Bogen über das große Ganze spannt: das ist schon sehr beeindruckend. 

Fast zu schön klingt dann der Ländler, die Kunstfertigkeit der Philharmoniker lässt das vermissen, was Mahler in der Vortragsbezeichnung – „etwas täppisch und sehr derb“ – ausdrücklich einfordert. Formvollendet gerundet das Blech, betörend das Holz: nur Matthias Schorn an der Klarinette bringt herzhaft alpine Volksmusik-Tönungen in Spiel. Auch vom zweiten Binnensatz bleibt trotz aller Präzision weniger das Diabolische der Rondo-Burleske in Erinnerung, das etwa Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker kühl zugespitzt und „moderner“ zum Ausdruck gebracht haben, sondern die zarten Vorahnungen der abschließenden Sehnsuchtsmelodie. 

Dieses Adagio, einer der großen Schlusssätze in Gustav Mahlers symphonischem Kosmos, steht im Zentrum von Andris Nelsons Werksicht. Wieder sind es die Streicher, die einzelne Stimmen, Schattierungen wie Karamell zum Klang verschmelzen und diesem Satz ihren Stempel aufdrücken. Nelsons bringt diesen Satz in aller Ruhe zur Entfaltung und kostet die berührende Klangwirkung aus. Diese Himmelfahrt kann man nicht besser gestalten, alles verklingt und erstirbt atemberaubend nuancenreich. Ergriffenheit und langsam anschwellender Jubel.

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