Kammerkonzert “100 Jahre IGNM”: Wie modern klang Salzburg?
1922 zog die Neue Musik in die Mozartstadt ein. Bei den Salzburger Festspielen führte nun ein Konzert 100 Jahre zurück: in eine Zeit zwischen radikalem Aufbruch und strikter Ablehnung. Salzburg wird modern? Der Kabarettist und Mozartstadt-Kenner Christian Wallner hat zeitlebens gern ironisch darauf hingewiesen, dass es bei dem Satz von der Silbenbetonung abhängt, ob am Ende ein Fortschritt oder doch ein muffiges Gefühl herauskommt. Im Festspielsommer des Jahres 1922 aber standen alle Zeichen auf Aufbruch. In Salzburg formierte sich eine “Internationale Gesellschaft der Neuen Musik” (IGNM), in der sich die Komponisten Béla Bartók, Paul Hindemith, Darius Milhaud und Egon Wellesz zusammenschlossen, um nach dem Ersten Weltkrieg mit allen seinen nationalistischen Tönen den zeitgenössischen Klängen ein kosmopolitisches Podium zu bieten.
Mozarteum, 7. August 1922: Die Premiere einer Konzertreihe ging vor 100 Jahren der Gründung der IGNM voraus. In Lokalzeitungen standen Vorberichte für die Aufführungen, die unter dem “Protektorate” von Festspielpräsident Richard Strauss standen und “unter Mitwirkung bedeutender Künstler aller Nationen ein Bild der zeitgenössischen internationalen Kammermusik in ihren hervorragendsten Werken darbieten werden”. In den ersten Kritiken war von Euphorie nicht mehr so viel zu lesen. “Wir Provinzler haben vorläufig noch die Gewohnheit, uns unsere Meinung selbst zu bilden”, hieß es etwa im “Salzburger Volksblatt”: Beim Streichquartett von Anton Webern war es zum lautstarken Eklat zwischen Bewunderern und Ablehnern seiner radikalen Musiksprache gekommen. Die neuen Wege, die viele zeitgenössische Komponisten verfolgten (neben Werken von Ravel und Debussy waren etwa Stücke von Enescu über Honegger bis Schönberg zu hören), wurden mit Misstrauen belegt: “Armer Mozart!”, wetterte etwa die “Salzburger Chronik” über den “von Richard Strauß empfohlenen musikalischen Irrgarten”, mit dem sie sich im Mozarteum konfrontiert sah, während das “Volksblatt” bei Schönberg “eine Musik kranker Nerven” zu hören glaubte und in Quartetten seines Schülers Egon Wellesz gar “eine Gefahr”.
Mozarteum, 7. August 2022: Anlässlich des Kammerkonzerts zum 100-jährigen Bestehen der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, das am Sonntagabend stattfand, hat das Blättern in den Archiven eher historisch-anekdotischen Wert. Die meisten Aufreger von einst sind heute die Klassiker der Moderne. Und wenn eine kammermusikalische Abordnung der Wiener Philharmoniker zum IGNM-Jubiläum Kompositionen von Ravel, Alban Berg, Richard Strauss und Egon Wellesz mit so viel klanglicher Noblesse interpretiert, ist nicht nur der Große Saal des Mozarteums gut besucht. Das Programm zieht auch ein international gemischtes Publikum an, wie am vielsprachigen Geflüster in den Umbaupausen zwischen den Werken zu hören war. Ravels “Introduction et Allegro”, uraufgeführt 1907 in Paris, hätte mit seinen glitzernden Läufen und Klangwellen freilich auch 1922 in Salzburg keinen Skandal produziert. Harfenistin Anneleen Lenaerts, Flötist Karl-Heinz Schütz, der Salzburger Klarinettist Matthias Schorn und ein Streichquartett unter dem Vorsitz von Rainer Honeck interpretierten das Werk mit geschmeidiger Leichtigkeit.
Dafür wurde bei Alban Bergs Kammerkonzert (1923/1925) in der Bearbeitung für Violine, Klarinette und Klavier (Honeck, Schorn, Christopher Hinterhuber) die radikale Dichte und Reduktion umso deutlicher hörbar, die der Komponist auf dem Weg in die Atonalität anstrebte. So eine Zukunftsmusik konnte vor 100 Jahren die Gemüter spalten, anders als Strauss’ Tondichtung “Till Eulenspiegels lustige Streiche”, aus der die Mitglieder der Wiener Philharmoniker auch im Kammermusikformat mit Streichquintett und Bläserquartett (Horn: Josef Reif, Fagott: Benedikt Dinkhauser) fein abgestuften Klangfarbenreichtum hervorkitzelten. Im abschließenden Oktett von IGNM-Mitbegründer Egon Wellesz ist der Tonfall nicht nur in den langen, elegischen Klarinettenphrasen wehmütig eingetrübt: Wellesz, der 1938 bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach England emigriert war, komponierte das Oktett 1949 im Exil als ein Werk des Rückblicks. Bei seiner Premiere in Salzburg stand dennoch seine Modernität im Mittelpunkt: “Man kann der Festspielleitung Rückständigkeit wirklich nicht zum Vorwurf machen: schon wieder eine Uraufführung”, schrieben die SN im August 1949 – und urteilten: “In dem Oktett ist kein Schnörkel, wohl aber alles Substanz.”
Logo: Matthias Schonr
Suche
Close this search box.