Nach dem „Tosca“-Desaster im Theater an der Wien musste man einfach in eine der Vorstellungen der nächsten „Tosca“-Serie an der Wiener Staatsoper gehen, um den Glauben an die Oper wieder zu erlangen. Die vom Publikum geliebte, von einigen Berufskritikern immer wieder verteufelte Inszenierung von Margarete Wallmann bietet auch 64 Jahre nach ihrer Premiere einen idealen Rahmen für einen spannenden Opernabend. Diese Produktion lässt den Sängern viel Freiraum auch immer ihre eigene Persönlichkeit einzubringen, und so konnten wir in bisher 630 Aufführungen viele interessante Besetzungen und aufregende Besetzungskonstellationen erleben. So habe ich allein in der Saison 1976-77 u.a. Montserrat Caballé, Gwyneth Jones, Eva Marton und Leonie Rysanek als Tosca, Giacomo Aragall, Wladimir Atlantow, Carlo Bergonzi, José Carreras, Placido Domingo, James King, Pedro Lavirgen, Bruno Prevedi, Gianni Raimondi und Amedeo Zambon als Cavaradossi sowie Theo Adam, Giampiero Mastromei, Yuri Mazurok, Kostas Paskalis und Eberhard Waechter als Scarpia gesehen. In der folgenden Spielzeit 1977-78 habe ich dann u.a. Ghena Dimitrowa, Gwyneth Jones, Janis Martin, Eva Marton, Johanna Meier, Birgit Nilsson, Leonie Rysanek und Anna Tomowa-Sintow als Tosca, Giacomo Aragall, Franco Bonisolli, José Carreras, Giuseppe Giacomini, James King, Peter Lindroos, Giorgio Merighi, Franco Tagliavini und Amedeo Zambon als Cavaradossi sowie Theo Adam, Sherrill Milnes, Kostas Paskalis, Eberhard Waechter und Ingvar Wixell als Scarpia erlebt. In den letzten 45 Jahren habe ich diese Inszenierung mehr als 250 Mal gesehen. Warum ich das hier erwähne? Hätten wir damals an der Staatsoper bereits eine derartig verunglimpfende Inszenierung gehabt wie sie uns jetzt im Theater an der Wien geboten wurde, dann hätte ich all diese Sänger wohl nicht erlebt, weil ich mir diese Produktion dann kein zweites Mal angesehen hätte. Jeder Operndirektor sollte sich also gut überlegen, ob er die Wallmann-Inszenierung durch eine Neuproduktion ersetzen will.

Elena Stikhina gab in der Titelrolle nun ihr Wien-Debüt. Für Österreich ist die 35-jährige russische Sopranistin ja nicht neu, vor sieben Jahren sang sie in der Salzburger Felsenreitschule (in einer Aufführung des Salzburger Landestheaters) die Micaela in „Carmen“ und 2019 sah ich sie in der Titelpartie von Cherubinis „Medée“ bei den Salzburger Festspielen (in der schlechten Produktion von Simon Stone). Nun konnte man sie als Tosca erleben, nachdem sie diese Partie in den letzten zwei Monaten bereits an der Metropolitan Opera in New York und an der Londoner Covent Garden Opera gesungen hatte. Sie gestaltete glaubhaft die Eifersucht, Frömmigkeit, Zärtlichkeit, Leichtgläubigkeit und mörderische Leidenschaft der Diva und setzte diese Eigenschaften auch musikalisch mühelos mit ihrer glänzenden Stimme und lyrischer Stimmführung um. Nur gelegentlich geraten einige Töne etwas scharf. Ihr „Vissi d’arte“ wurde vom Publikum bejubelt. Nur ihr (gesprochenes) „È avanti a lui tremava tutta Roma!“ mit anschließendem Lachanfall geriet etwas unglaubwürdig und übertrieben. (Und warum trug sie nicht die langen weißen Handschuhe, die sie am Ende des 2. Aktes am Tatort vergisst und die sie als Mörderin Scarpias entlarven?)

Erst vor wenigen Wochen hatten wir in Puccinis „Manon Lescaut“ einen Tenor, der als Chevalier des Grieux den ganzen Abend lang null Leidenschaft auf die Bühne brachte (wie übrigens wenige Monate zuvor schon als Maurizio in „Adriana Lecouvreur“). Nun stand Vittorio Grigolo als Cavaradossi auf der Bühne und das bedeutet mindestens 125% Leidenschaft. Der italienische Tenor ist kaum zu bremsen, und wenn auch manches manieriert erscheint, so überzeugt er doch als Liebender, als politischer Kämpfer, als vom Leben Abschied Nehmender. Stimmlich ist er am Eindrucksvollsten, wenn er langanhaltende, strahlende Stentortöne von sich geben kann („La vita mi costasse“ oder „Vittoria!“). Aber wenn er auch – vor allem im Piano – stimmtechnische Mängel nicht verbergen kann, er singt mit dem Herzen und so berührt er ihm dritten Akt mit einer entrückten Darbietung von „E lucevan le stelle“. Roberto Frontali klang und wirkte als Baron Scarpia im ersten Akt sehr müde. Aber nach der Pause war er wie ausgewechselt. Bereits sein „Ha più forte sapore“ sang er sehr schön und mit der erforderlichen Stimmkraft und auch in den nachfolgenden Szenen mit Cavaradossi und Tosca war er ein gleichwertiger Partner, stimmlich wie darstellerisch.

Aus der restlichen Besetzung (Wolfgang Bankl als Mesner, Andrea Giovannini als Spoletta, Attila Mokus als Sciarrone, Ilja Kazakov als Schließer) sind zwei außergewöhnliche Leistungen hervorzuheben: Marin Häßler machte als Angelotti neuerlich auf seine überaus schöne Stimme aufmerksam und die kleine Julia Oos, die schon die letzte „Peter Grimes“-Aufführung durch ihr beherztes Einspringen gerettet hatte, sang das Lied des Hirten im dritten Akt betörend schön.
Das Orchester der Wiener Staatsoper präsentierte sich in guter Form. Es unterstrich die Spannung auf der Bühne mit einerseits warmen, sinnlichen Farben, andererseits knalligen – aber nie zu lauten – Temperamentsausbrüchen. Da stimmt an diesem Abend fast alles bis in die kammermusikalisch angehauchten, chromatisch absteigenden Sphären zu Beginn des dritten Akts und das hoch sensibel vorgetragene Klarinettensolo in Cavaradossis Sternen-Arie.

Und was war es für eine Freude am Pult endlich wieder Marco Armiliato erlebt zu haben. Er kennt das Orchester der Wiener Staatsoper, aber vor allem kennt er die Akustik des Hauses. Nach all den vielen neuen Dirigenten, die das Orchester in letzter Zeit viel zu laut aufspielen ließen und damit den Sängern auf der Bühne das Leben erschwerten, war dies nun endlich wieder ein Repertoire-Dirigat, wie es besser nicht sein könnte. Am Ende verzichteten die Sänger auf Solo-Vorhänge. (Hatte man Angst, dass es möglicherweise Protestkundgebungen gegen die russische Sängerin geben könnte?) Stattdessen erschien Vittorio Grigolo in einem weißen T-Shirt, auf dem auf der Rückseite ein großes rotes Herz und auf der Vorderseite der Schriftzug NO WAR gedruckt war. Dazu umarmte er seine Partnerin demonstrativ auf das herzlichste. Eine schöne Geste in dieser gerade auch für russische Künstler schweren Zeit.

Logo: Matthias Schonr
Suche
Close this search box.